Gedanken und Learnings zu sich selbst führenden Teams

Kai Platschke @ teamdecoder
10 min readOct 9, 2020

#newwork #holokratie #selbstführung #teamwork #change

Nachdem ich viele Jahre Unternehmen geholfen habe, Marken menschlicher werden zu lassen (> Relevanzmethode), habe ich immer mehr gespürt, dass große Veränderungen intern anstehen. Neues Denken — im Marketing oder woanders — kann man nur etablieren, wenn man auch anders arbeitet. Alte, starre Hierarchien und komplexe Bürokratien verhindern nicht nur, dass draußen schneller ein anderer Eindruck entsteht, sondern vor allem auch, dass drinnen die Leute zufriedener werden. Und das Beste: Das Ergebnis vom neuen Arbeiten, vor allem in selbstorganisierten Teams, ist nicht nur Zufriedenheit, sondern auch Erfolg.

In den letzten Jahren habe ich daher viel geforscht und experimentiert, was den Bereich “New Work” angeht. Ich habe die einschlägige Literatur gelesen, bin virtuell den Corporate Rebels gefolgt beim Abklappern ihrer beeindruckenden Bucket-List, habe Holokratie-Seminare (u.a bei den Dwarfs&Giants in Wien) gemacht und bin dann (natürlich) doch in der Realität angekommen. Bei meiner Arbeit mit sich selbst führenden und organisierenden Teams habe ich eine Menge gelernt.

Meine unvollständige (ziemlich Standard-)Literatur-Liste:

Reinventing Organisations

Holacracy

Corporate Rebels “Make Work More Fun”

Rework

The Happy Manifesto

Teams Of Teams

Ich hatte das Glück, viele Kunden zu haben, die es mir ermöglicht haben, mit ihnen gemeinsam erste Schritte und Experimente zu wagen. Oft waren das gar nicht offizielle “New Work” Projekte, aber es hat sich im Laufe meiner Arbeit als Unternehmensberater auf anderen Marketing oder Restrukturierungs-Projekten herausgestellt, dass neue Ansätze in der Art WIE man arbeitet, helfen können. Ohne vorgreifen zu wollen ist das vielleicht schon das erste Learning: Jetzt zu wissen, dass das WIE genauso wichtig ist wie das WAS — oder anders gesagt: Dass man sich immer auch um die Arbeit AM Unternehmen, nicht nur um die Arbeit IM Unternehmen kümmern sollte. Und dafür einen Prozess aufzusetzen, der die Veränderung am Leben erhält.

Hier in diesem Artikel versuche ich mal, Dich in zu den Learnings in meinem Teamwork Lab mit auf die Reise zu nehmen. Gibt mir gerne Bescheid, wenn Du mehr Infos brauchst oder Fragen hast.

#1: Für wen macht man das eigentlich?

Ich habe schon einige Change-Prozess begleitet und dabei immer die Erfahrung gemacht, dass Bottom-Up der beste Approach ist. Der Auftrag mag zwar von oben kommen, aber der Inhalt, Richtung und Prozess müssen massgeblich von unten nach oben gestaltet werden, damit man alle Mitarbeiter mitnehmen kann und das “wahre Bild” des Unternehmens korrigiert, und nicht die verzerrte CEO-Sicht.

Aber hierbei ist das ganz anders.

Wenn man das Thema Teamwork so versteht wie ich, also Teams mehr Eigenverantwortung zu übergeben, um die Verantwortung im Unternehmen besser zu verteilen, Prozesse zu vereinfachen, Bürokratie abzubauen und Hierarchie als Trennung zwischen oben und unten aufzulösen, denkt man (oder: habe ich zumindest zuerst so gedacht), dass man der Workforce etwas Gutes tut. Man “empowert” sie ja, sollen sie sich mal drüber freuen. Lol. Ich habe anfangs tatsächlich gedacht, diese Umwälzung als “Anwalt der kleinen Zahnräder” gegen die “böse Führung da oben” durchboxen zu wollen.

In der Realität waren es aber immer “die ganz oben”, die unbedingt Verantwortung loswerden wollten, und “die da unten”, denen es schwer fiel, oder die es sogar ablehnten, Verantwortung zu übernehmen. Da hatte ich verstanden, dass das jetzt nichts mehr mit oben gegen unten oder umgekehrt zu tun hat, sondern mit einer ganz neuen Art von Arbeit, die jeder lernen, an die jeder sich gewöhnen muss, und die auch wachsen und immer weiter gestaltet werden muss, bis sie passt, und darüber hinaus.

#2: Starten mit “Kreisen”

Ich bediene mich gerne des Elementes der “Kreise” aus der Holokratie, weil man so in relativ kleinen Einheiten gut anderes Arbeiten üben und kontinuierlich verbessern kann, und diese Art zu arbeiten dann auch gut in andere Bereiche des Unternehmens ausweiten kann, indem man einfach nach und nach mehr Kreise aufbaut.

Diese Kreise können zu Beginn übergreifende Tätigkeiten wahrnehmen, wie zum Beispiel Innovation, Werte, Nachhaltigkeit oder Compliance, dann aber auch mehr und mehr Kernaufgaben des Unternehmens, also in Form von Teams nach Skills oder Projekten/Kunden.

Jedem Kreis seinen Purpose

Kreise kommen am Anfang nach jeder schwierigen Phase immer wieder zurück zum Sinn und Zweck. Warum machen wir das alles überhaupt? Wo wollen wir eigentlich hin? Das ist so, weil zu Beginn die neue Organisations-Form noch nicht eingespielt ist, und sich Teams oft entweder in der Organisation vergraben oder in zu viele Richtungen gleichzeitig loslaufen.

Daher braucht das Team, der Kreis, gleich zu Beginn einen Purpose, einen Zweck, damit:

  • jeder weiss, wozu der Kreis gut ist,
  • man als Kreismitglied das große Ziel kennt und auf was man sich einlässt, und
  • als Externer weiss, welche Erwartungshaltung man gegenüber dem Kreis haben darf.

Beispiele:

  • Der Innovationskreis hat die Aufgabe, die Firma X regelmäßig mit neuen, inspirierenden und fürs Geschäft finanziell und inhaltlich guten Ideen zu versorgen und deren Entwicklung anzustoßen oder selbst zu übernehmen.
  • Der Wertekreis soll ein Wertesystem für die Firma X definieren, implementieren und am Leben halten.

Es ist empfehlenswert, diesen Purpose in dem Moment zu formulieren, wenn die Idee für einen neuen Kreis entsteht. Von der Geschäftsführung oder von HR, sofern diese Stellen die Idee für den Kreis hatten, oder von Mitarbeitern, die selbst gerne einen neuen Kreis gründen möchten.

Es ist aber auch essentiell, dem Kreis selbst die Möglichkeit zu geben, den Purpose zu ihrem eigenen machen zu können, indem sie ihn umformulieren und/oder ergänzen können, ohne die ursprüngliche Intention zu verlieren.

#3: Governance statt Basis-Demokratie

So ein neues Team oder ein Kreis besteht idealerweise aus Menschen, die sich für das Thema interessieren und begeistert sind, unabhängig davon, aus welcher “Abteilung” oder von welcher “Hierarchiestufe” des Unternehmens sie stammen. D.h. es sind oft keine Leute, die sich den ganzen Tag eh sehen oder nebeneinander sitzen, oft kennt man sich nicht einmal.

Da ist es wichtig, von Anfang an ein System und einen Coach bereitzustellen, der dem Team in den ersten Wochen und Monaten hilft, auf die Spur zu kommen und das neue Arbeiten zu lernen.

Keine Chefs? Papperlapapp

So denken die Teams oft in den ersten Treffen, das sie, weil sie jetzt ja ohne Chef arbeiten sollen, der normalerweise die Entscheidungen trifft, in einer Art Basis-Demokratie leben in der sich immer alle einig darüber sein müssen, was als nächstens geschieht. So vertieft man sich in ewige Diskussionen über jedes Detail und kommt am Ende des Tages gar nicht mehr zur Arbeit. Es vergehen Monate und der Kreis macht keinerlei Fortschritte. Klassische Falle.

Selbstorganisation heisst nicht, dass es “keinen Chef” gibt, sondern ganz in Gegenteil. Es heisst, dass die Arbeit und damit die Verantwortung aufgeteilt wird und jeder Einzelne jetzt Chef für seinen Bereich ist und da autark Entscheidungen treffen kann. Statt kein Chef also: Alle sind Chef!

Es heisst aber auch, selbst dafür verantwortlich zu sein, sich seinen Job so zu gestalten, wie man ihn gerne hätte. Und dafür muss man seinen Mund aufmachen. Wer nichts sagt, nimmt nicht teil, und was nicht gesagt wird, gibt es nicht. Das sind sehr brutale aber ehrliche Regeln der Selbstorganisation.

Rollen und Spielregeln dokumentieren

Der Gefahr zum Trotz, dass die Selbstorganisation zu Beginn sehr bürokratisch wirken kann, bin ich ein großer Fan von Governance-Dokumenten geworden, in dem das Team alles festhält, was die Arbeitsweise des Kreises betrifft. Also alles, außer der inhaltlichen Arbeit, wie ToDs für die Projekte, etc.

Da gehören rein:

  • Organisatorische und inhaltliche Rollen und Aufgaben
  • Domains, wer sie verwaltet und was es dabei zu beachten gibt
  • Spielregeln, die man sich geben möchte, damit alle sich dran halten können
  • Spannungen (= Probleme und Potenziale), die man im Arbeitsalltag wahrnimmt und gerne im nächsten Governance Meeting besprechen möchte

Bei manchen Teams wird da eine Art “Verfassung” draus, die alle unterschreiben und an der man gemeinschaftlich in regelmäßigen Abständen weiter arbeitet, in anderen Teams ist das eine Excel Liste, die zu Beginn des Status Meetings durchgegangen wird, bevor man in die Projekte geht. Wichtig ist, dass es das Dokument gibt, in welcher Form auch immer, und allen bewusst ist, das diese Struktur genauso wichtig ist, wie die inhaltliche Arbeit.

Firmen, die eine Vielzahl von Kreisen implementieren, entscheiden sich vielleicht auch dafür, mit dem Holokratie-Tool Glassfrog zu arbeiten.

#4: Beratungsprozess

Wenn dann im Kreis Verantwortung verteilt wurde, kommt es natürlich vor, dass Menschen vor Entscheidungen stehen, die sie nicht alleine treffen wollen, können oder sollten. Zum Beispiel kann es ja sein, das die Entscheidung einer Person den Aufgabenbereich einer anderen Person berührt.

In solchen Fällen hat sich der sog. Beratungsprozess immer als sehr nützlich erwiesen. Die verantwortliche Person darf nach wie vor die Entscheidung alleine treffen, muss aber vorher alle Personen gehört haben, die von der Entscheidung berührt werden oder inhaltlich etwas dazu zu sagen haben könnten.

Der Beratungsprozess ist auch im Governance Prozess nützlich. Wenn ein Mitarbeiter im Governance Meeting eine neue Spielregel oder Rolle oder Domain einbringen möchte, wäre es hilfreich, wenn er/sie seinen/ihren Vorschlag im Vorfeld schon mal mit ein paar Kollegen inoffiziell in der Küche oder im Chat bespricht, um dann sicherstellen zu könne, das der Vorschlag im Meeting mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen wird.

Einspruch

In den Governance Meetings arbeite ich übrigens mit dem Einspruch-Prinzip. Vorschläge sind immer dann angenommen, wenn keiner einen Einspruch hat. Dabei sind alle am Tisch gleichgestellt, auch wenn ein GF oder der Gründer oder CEO mit am Tisch sitzen. Jeder hat das gleich starke Recht eines Einspruchs. Und wenn der Einspruch nicht schnell geklärt werden kann, bekommt der Einbringer des Vorschlags die Aufgabe, sich außerhalb des Meetings mit dem Einsprechenden zu einigen und im nächsten Meeting einen überarbeiteten Vorschlag mitzubringen. Und: Jeder der nicht eingesprochen hat, kann dann jederzeit später wieder einen Einwand einbringen, wenn sich zum Beispiel zeigt, dass die neue Rolle oder Regel im Alltag keinen Sinn macht. Dieser neue Einspruch sollte dann aber gleich mit einem Vorschlag daherkommen, wie es besser sein würde.

Und auf diese Art und Weise ist das o.g. Dokument, und damit der Arbeitsalltag, ständig in Bearbeitung und Verbesserung.

#5: Tool Heaven

Ein digitales Tool und seine Benutzung sind das A und O für die Arbeit in einem Kreis. Gerade weil die Arbeit in dem Kreis nicht der einzige Job jedes Kreis-Mitgliedes ist, ist es wichtig, darüber in Kontakt zu bleiben. Und nicht nur das: Ich habe häufig gesehen, wie schwer es den Leuten fällt, ein digitales Tool (Basecamp, Microsoft Teams, etc.) als Teil des Arbeitsplatzes zu verstehen. Es ist wichtig zu lernen, wie man darin arbeitet, Diskussionen führt, ToDos verteilt, Timings erstellt, Entscheidungen trifft und kommuniziert — alles, ohne sich ein einziges Mal zu treffen. Das fängt mit so einfachen Regeln an wie “jeder muss mindestens am Tag da rein schauen” und geht weiter mit eventuellen Test-Projekten, bei denen die Kollegen absichtlich und ausschliesslich nur über das Tool arbeiten dürfen. Sich daran zu gewöhnen erleichtert den Team-Mitgliedern die Arbeit erheblich.

#6: Coaching von oben

Für die Chefs gilt das gute alte “Frame & Trust”, also zum Beispiel über den Purpose und die Spielregeln bei Gründung des Kreises klar machen, in welchem Rahmen sich der Kreis frei entfalten kann, und dann darauf vertrauen, dass dabei etwas Gutes herauskommt und die Leute sich entsprechend einbringen, ohne zu kontrollieren. Loslassen ist hier das Wort der Stunde, auch wenn (und: ja, das kommt häufig vor) am Anfang Kreise nicht so krass performen, wie man sich das als Chef wünschen würde. Warum? Weil der Kreis eben gerade zu Beginn noch eine ganze Menge anderer Dinge lernen muss, als nur den inhaltlichen Job zu erledigen.

Dieses WIE wird gerne und zu unrecht unterschätzt!

Wenn Unternehmen zu Beginn einer solchen Veränderung natürlich noch nicht komplett in Kreisen arbeiten, haben die Kreis-Mitglieder ja in ihrer Tätigkeit außerhalb des Kreises noch einen “normalen” Vorgesetzten. Diesem/r muss klar sein, für welche Bereiche er/sie noch verantwortlich ist und wo nicht. Der Kreis selbst kann und sollte sich natürlich inhaltliche Expertisen immer wieder dazu holen, wenn Bedarf ist — und so kann ein (ehem.) Chef in die Rolle des Coaches kommen, der dann Inhalte, Ideen, Kommentare, Feedback, Empfehlungen beisteuern kann, aber nicht weisungsbefugt ist.

Und noch weiter oben, also in der Geschäftsführung, da sitzen die Menschen, die offiziell die Verantwortung abgegeben haben, und auch hier muss man sich mit der neuen Rolle des Beraters/Trainers/Coaches anfreunden. Die größte Angst dabei ist aber weniger der Verlust der Möglichkeit die Entscheidung selbst zu treffen, sondern viel mehr die Sorge, nicht mehr gehört zu werden und zu sehen, wie die ganze Firma an einem vorbei entwickelt wird.

Aber das ist in der Realität ja nicht der Fall. Zum einen kann man ja bei Interesse von sich aus eine starke Verbindung zum Team halten, das Team andererseits ist innerhalb des Beratungsprozesses auch aufgefordert, sich mit der GF auszutauschen bei entsprechenden Themen und man darf weiterhin miteinander reden, Kaffee trinken und sich austauschen :) Das vergisst man dann gerne mal.

Fazit

Sich selbst führende Teams zu implementieren ist also ein Job auf allen Ebenen und eine Umstellung, die auch den Mitarbeitern nicht immer leicht fällt oder manchmal auch grundsätzlich nicht liegt. Man muss sich von der Vorstellung befreien, damit allen Mitarbeitern einen Gefallen zu tun. Man muss sich dafür entscheiden, weil die bisherige Arbeitsweise nicht mehr automatisch die besseren Ergebnisse liefert und deshalb auf Menschen im Unternehmen setzen, die bereit sind, einen neuen Weg zu definieren.

Es kann dabei durchaus vorkommen, dass Mitarbeiter sich so unwohl damit fühlen, dass sie den Kreis oder das Unternehmen verlassen. Da geht es dann um eine Grundsatzentscheidung der Firma, inwieweit die neue Organisation freiwillig ist oder umgesetzt werden muss.

Aber wenn man erstmal soweit ist und loslegen kann und dann merkt, wie sich mehr und mehr Leute mit dem System anfreunden, die neue Freiheit geniessen und nutzen lernen, das erste Mal eine eigene Entscheidung umsetzen, neue Connections schmieden, wenn man die Energie und den Spaß spürt, die plötzlich bei der Arbeit entstehen, weiß man, das man in die richtige Richtung läuft :)

— -

Vielen Dank für’s Lesen. Ich bin mir sicher, dass einige von Euch andere Erfahrungen gemacht haben. Würde mich freuen, davon zu hören und zu lernen! Oder Du willst mal besprechen, wie man das in Deiner Firma testen könnte? Dann meldet Euch doch einfach: kai@platschke.de / www.kaiplatschke.de

Titelfoto: Photo by Csaba Balazs on Unsplash

--

--

Kai Platschke @ teamdecoder

Independent business consultant for brand strategy, sustainability and org design. Founder of www.teamdecoder.com